Writefull Wednesday Juni - Brief ohne Absender

Es wird wieder einmal Zeit für den Writefull Wednesday, unsere gemeinsame Online-Schreibwerkstatt. Diesen Monat lautet das Thema "Brief ohne Absender".  Alle Informationen zur Teilnahme am Writefull Wednesday findet ihr in dem passenden Storyhighlight auf meiner Instagramseite (@wortchroniken).

Ich habe mal wieder vollkommen mit der Länge übertrieben, weshalb ich meinen gesamten Text dieses Mal hier hochladen werde! Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!




Brief voller Einsamkeit

Auf den morschen Holzdielen meiner Terrasse lag ein Brief. Ein Brief im rotem Umschlag, verschlossen mit einem goldenen, verschnörkelten Siegel. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich ihn erblickte, denn es war mir nicht möglich, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal einen Brief bekommen hatte. Seit Jahren lebte ich in dem einsamen, viktorianischen Haus am Meer, und üblicherweise schafften es noch nicht einmal Werbezeitungen hierher. Einen Postboten hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen, auch nicht an jenem Tag, als dieser mysteriöse Brief auftauchte.

Doch der Brief war nicht für mich. Er war für eine gewisse Margaret Gerhards, von der ich wusste, dass sie die Vorbesitzerin dieses Hauses gewesen war. Sie hatte ihr ganzes Leben hier verbracht, bis zu ihrem Tod.  Einen Absender hatte der Brief nicht. Mein erster Reflex war es, ihn einfach wieder zurück auf die Dielen zu legen und darauf zu warten, dass er vom Wind weggetragen wurde. Aber aus irgendeinem Grund tat ich das nicht. Stattdessen nahm ich den Brief mit hinein und legte ihn auf die Kommode im Flur, als würde sein Adressat ihn irgendwann abholen kommen. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, ließ mich in meinen verbeulten Sessel sinken und starrte wieder auf den Bildschirm des Fernsehers, auf dem eine Sendung lief, die ich wenige Minuten zuvor noch als spannend empfunden hatte. Jetzt ruhten meine Augen zwar wie zuvor auf dem Bildschirm, das Geschehen ging aber gänzlich an mir vorbei. Irgendwann gab ich es auf und schaltete die Flimmerkiste ab. Den restlichen Tag über versuchte ich, den Gedanken an den Brief ganz weit von mir wegzuschieben. Ich beschäftigte mich so wie ich es jeden Tag tat: Ich kochte, löste Kreuzworträtsel, machte einen Spaziergang, kehrte und fing wieder von vorne an. Sonst kam ich mit dem Ablauf meines Lebens gut klar, aber heute fiel mir jede meiner Aktivitäten schwer. Einige Male fiel mein Blick auf mein Telefon. Ich hatte es seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt, weil es seit Ewigkeiten niemanden mehr gab, den ich anrufen wollte. Seit meine Schwester vor einigen Jahren gestorben war, war ich genauso einsam wie das Haus, in dem ich lebte. Auch an diesem Tag blieb das Telefon unberührt, und abends landete ich wieder vor dem Fernseher.

Nachts konnte ich nicht schlafen. Ich wälzte mich hin und her, Gedanken an den Brief immer wieder in meinem Kopf. Gegen fünf Uhr morgens gab ich das Schlafen auf. Ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich würde den Brief öffnen. In der Nacht hatte ich mir eingeredet, dass es meine Pflicht war, das zu tun, obwohl ich nicht die Adressatin des Briefes war. Die Person, die den Brief verfasst hatte, wusste offenbar nichts von dem Tod von Margaret. Vielleicht würden sich im Umschlag Hinweise auf den Verfasser oder die Verfasserin des Briefes finden, die es mir ermöglichten, ihn oder sie über das Ableben von Margaret Gerhards zu informieren. Schneller als je zuvor war ich in meine Pantoffeln geschlüpft und hatte mir einen Morgenmantel übergezogen. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, hielt ich den Brief auch schon in den Händen und hatte ihn aufgerissen.

 

Liebe Margaret,

alles Gute zum Geburtstag! Ich kann gar nicht glauben, dass du heute 30 Jahre alt geworden wärst. Geschweige denn, dass es schon so lange her ist, seit ich dein Lachen gehört habe. Ich vermisse dich, kleine Schwester. Ich vermisse dich mehr, als ich jemals in Worte fassen könnte. Seit du von mir gegangen bist, fühlt sich mein Leben an wie eine leere Nussschale. Die Einsamkeit, die ich mit mir herumtrage, gehört bereits so sehr zu mir, dass sie sich anfühlt wie eine zweite Haut. Ich hasse dieses Gefühl, alleine auf der Welt zu sein. Ich hasse es, in einer Gruppe von Menschen im Supermarkt zu stehen und mich trotzdem einsam zu fühlen. Aber am meisten hasse ich es, dass du nicht mehr hier bist, um jeden Morgen den Sonnenaufgang mit mir zu sehen. Ich vermisse unsere Treffen bei der blauen Holzbank. Jeden Morgen um Punkt sieben bin ich da und hoffe, du würdest auftauchen, obwohl ich weiß, dass du nicht auftauchen kannst.                                                                                                    Ich liebe dich.

 Anne

Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur dasaß und weinte. Ich weinte für die große Schwester, die ihre kleine Schwester verloren hat. Ich weinte um ihre Einsamkeit, die ich nur allzu gut kannte. Ich verstand, was sie fühlte, was sie durchmacht. Obwohl wir uns nicht kannten, kannte ich sie. Und ihr Schmerz betäubte mich genauso sehr, wie mein eigener. Vielleicht konnte ich ihren Schmerz inzwischen auch gar nicht mehr von meinem trennen, denn es fühlte sich so an als habe sich der Schmerz von ihr und mir vermischt wie Wasserfarben. Die Farbe, die dabei herauskam, war schwarz. Ich konnte sie nicht ertragen.

Nach einer Weile hörte das Zittern meines Körpers auf und meine Augen waren nicht länger in der Lage, weitere Tränen zu produzieren. Ich stand auf, besorgte Stift und Papier und begann, zu schreiben. Als ich mir alles von der Seele geschrieben hatte, was in mir vorging, atmete ich tief aus. Es fühlte sich an, als wäre ich hundert Kilo leichter. Vielleicht könnten Anne und ich uns gegenseitig dabei helfen, das Gewicht zu tragen, das seit dem Tod unserer Schwestern auf uns lag. Es war kurz nach sechs, also schnappte ich mir schnell Jacke und Schuhe. Dabei war es mir egal, dass ich unter meiner Jacke weiterhin einen Schlafanzug trug, ich wollte mich einzig und allein so schnell wie möglich auf den Weg zu der blauen Holzbank machen, von der Anne gesprochen hat. Ich hatte von Anfang an gewusst, welche sie meinte, denn ich ging bei jedem meiner Spaziergänge an ihr vorbei. Dort angekommen legte ich den Brief auf der Bank ab und sorgte mithilfe eines Steins dafür, dass der Wind ihn nicht wegtragen konnte. Kaum hatte ich das erledigt, entfernte ich mich und stellte mich hinter einen Baum einige Meter entfernt. Eigentlich hatte ich gehen wollen, aber jetzt war ich doch zu neugierig darauf, wer hier gleich auftauchen würde.

Wenige Minuten später war sie auch schon da. Eine Frau mittleren Alters mit braunen Haaren, die bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen waren. Langsam schritt sie auf die Bank zu, stockte aber kurz davor. Ich krallte meine Nägel in die Rinde des Baumes, als sie sich beugte und meinen Brief aufhob. Während sie ihn las, stand ich mucksmäuschenstill da, aus Angst, sie könne mich bemerken. Minutenlang schien nichts zu geschehen, dann schaute sie sich um, entdeckte mich aber nicht. Ich jedoch entdeckte etwas, dass ein Gefühl in mir weckte, welches ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Ausgelöst von dem sanften Lächeln, welches sich um Annes Gesicht gelegt hatte. Sie nahm auf der Bank Platz, kramte Stift und Papier hervor und begann zu schreiben. Ich wusste, dass sie an mich schrieb.  Das Gefühl in mir wuchs, wurde so groß, dass ich endlich in Worte fassen konnte: Hoffnung.  Alles, was es gebraucht hatte, war ein wenig Geduld, um unsere beider Einsamkeit zu beenden.


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